Feines Opernfutter liegt da derzeit für neugierige Berliner bereit, sofern sie abseits ausgetretener Opernpfade das Besondere suchen. Die Deutsche Oper bringt im November Czernowins Heart Chamber und Brittens Death in Venice, die Staatsoper zeigt Janáčeks Katja Kabanowa und Nicolais Lustige Weiber, dann folgen unter den Linden zwei Purcell-Opern und ein kaum gehörter Scarlatti. Das kann sich hören und sehen lassen. Und nun feiert an der Komischen Oper Berlin Hans Werner Henzes Bassariden oder besser The Bassarids Premiere – gesungen wird im originalen Englisch.

Die Handlung ist tragisch, schnörkel- und humorlos (Libretto: Auden/Kallmann). Eine Mutter (Agave) zerfleischt im Wahn den eigenen Sohn (Pentheus), den jungen König von Theben. Zuvor verwandelt Dionysus Theben in eine ekstatisch enthemmte Gesellschaft.

Barry Kosky inszeniert das Musikdrama in einem Akt mit kühlem Auge. Es geht um die Verführung zur Gewalt, um Verblendung und die Machtlosigkeit der Rationalität. Kosky erzählt das zeitlos und doch packend. Die Moral von der Geschichte? Die Götter sind grausam. Menschen lassen sich zum Mord verführen. Die Bühne ist streng symmetrisch geordnet: Eine Freitreppe führt in die Höhe, wie schon bei Warlikowski in Salzburg, so nimmt jetzt auch bei Kosky das Bühnenorchester seitlich Platz (Katrin Lea Tag).

The Bassaris Henze Kosky Komische Oper 1

Hinzu kommt eine Personenregie, die überzeugt. Hellwach und zielgenau rotieren Personen und Konstellationen. Da wird getanzt, gehasst, gerungen. Aber ohne jeden Schnickschnack. Nur das Revue-simultan zappelnde Tänzerkollektiv bietet altbekannten Kosky-ismus, und illustriert das Zerfleischen Pentheus‘ doch seltsam verklemmt. Eine der Schlüsselszenen: Den Kuss des aalglatten Dionysus vor der Mordtat erlebt Pentheus wie eine Vergewaltigung.

Herrscherlicher Haarturm

Doch was mit dem Intermezzo machen? Henze selbst regte dessen Streichung an. Doch als retardierender Einschub hat das schräge, gut 15-minütige Intermezzo (Das Urteil der Kalliope darstellend) sehr wohl seine Berechtigung. Die scherzo-leichte, mandolinenzirpende Persiflage bietet köstliche Musik und fügt den so düsteren Bassarids eine gänzlich neue tinta hinzu.

Gesungen wird prachtvoll.

Günter Papendell (in schniekem Anzug-Schwarz, nach hinten geschleimte Gelfrisur) gibt den prinzipientreuen Pentheus, der sich tapfer gegen den staatszersetzenden Party-Hedonismus wehrt. Sein schöner, schlanker, kraftvoller Bartion ist eine helle Freude, selbst im wilden Affekt sitzt die Stimme. Pentheus‘ Mutter Agave macht Tanja Ariane Baumgartner (weißes Galakleid à la Denver Clan, grautoupierter, herrscherlicher Haarturm) mit scharfzüngigem, auch kantigem und immer körperhaftem Organ zum Mezzo-Ereignis. Das ist stark bis in die pianissimo-Passagen des berührenden Schluss-Monologs. Agaves Schwester Vera-Lotte Boecker (zartviolettes Gazekleid, aufwärts gefönte Haarfontäne) bringt für die lebenslustige Autonoe (eine Rolle für Koloratursopran) die flirrende Wendigkeit einer Soubrette mit. Ein Hingucker ist der blinde Tiresias im trutschigen Puffärmelkleid. Der flippige Seher findet in Ivan Turšić einen aufgekratzten Interpreten.

Schönheitstrunkene Linien

Als Stimme der Vernunft sieht Cadmos das Unglück kommen. Jens Larsen sieht aus wie Otto, steckt im sackartig überdimensionierten Zweireiher fest und schallt mit angemessen mahnendem Bass. Die resolute Margarita Nekrasova (Beroe, die Amme) ist ein wahrer Ausbund an Körper- und Stimmvolumen. Ihre Bühnenpräsenz ist beeindruckend. Ihre Stimme spuckt Mezzoflammen. Überraschung dann beim Gott Dionysus, der als lässig androgyner Schönling aufkreuzt, Sean Panikkar singt die fordernde Rolle mit ungeheuer klarem, fein abgewogenem, intimem Tenor. Und Hauptmann der Königsgarde ist Tom Erik Lie in passgenauer Militäruniform.

The Bassaris Henze Kosky Komische Oper 2

Faszinierend aber ist Henzes Musik. Mit unendlich dramatischem Gespür führt sie durch die kurzweiligen gut zwei Stunden. Ihr Puls schlägt hörbar modern, ihr Klang ist stets sicher gehört. Was Henze da Mitte der Sechziger Jahre schrieb, türmt sich dramatisch auf, drängt und treibt an, wickelt den Zuhörer mit Holzbläser-Finessen um den Finger und zieht unter die Verhörszene ein Netz schönheitstrunkener Streicherlinien. All die modernistische Kritik an Henze, hinfort mit dir! Vorzüglich dann auch das Orchester der Komischen Oper, das unter Vladimir Jurowski wunderbar reaktionsschnell agiert, die Sache immer im Griff hat, als hätten die Musiker an diesem Abend einen Henze-Kompass in ihrem Herzen. Meinem Gefühl nach gab es den einen oder anderen Schnitt.

Die Chorsätze finde ich bei erstem Hören erstaunlich konventionell, will sagen auf dem Stand von Strawinskys Psalmensymphonie (1930). Aber ich kann mich täuschen. Der Chor (David Cavelius) aber ist ein zweifaches Ereignis. Er singt toll und er spielt toll. Wie der Chor auf der Steiltreppe sich simultan erhebt, wellenartig die Ärme reckt, die schwarzgewandeten Leiber hin und her wiegt, das bleibt immer spannend und versprüht jede Menge Lebendigkeit.

Diese Bassariden sind ein dickes Plädoyer für mehr Henze auf Berliner Opernbühnen.

Fotos: Monika Rittershaus


Weitere Kritiken zu Bassariden: Aufregend, spannend (Hundert11), Haut einem kathartisch die Beine weg (Kritik von Kai Luehrs-Kaiser), Wo bleibt Kosky? (Niklaus Hablützel).