Wer wollte, konnte diese Elektra schon in Aix-en-Provence, Mailand oder New York sehen. Premiere war 2013 in Aix. Ist die Berliner Premiere im Schillertheater also nur aufgewärmtes Gulasch? Nein. Es war richtig, Patrice Chéreaus verblüffende Elektra nach Berlin zu holen.

Es sind nicht nachgerade neue Regie-Einfälle, die Chéreaus Inszenierung  von Strauss‘ phonstarker Oper auszeichnet. Es ist die Fähigkeit des Regisseurs, eine Art verblüffend moderner Essenz der Elektra zu schaffen. Bühnenbild (Richard Peduzzi) und Kostüme (Caroline de Vivaise) formen einen vage gegenwärtigen Imaginationsraum. Metalltore, hohe Mauern, eine bleiche Apside suggerieren im Detail unbestimmt, in der Atmosphäre präzise einen spröde mediterranen Patio (trübe Athener Vorstadtbehausung? staubiger Mykene-Landsitz?). Das Licht ist hell. Die Protagonisten zeichnen sich scharf ab.

Evelyn Herlitzius Elektra Berlin Patrice Chéreau
Aktion „Stoppt diese Frau“: Katharina Kammerloher und Anna Samuil versuchen’s wenigstens / Foto: Monika Rittershaus / facebook.com/staatsoper/

Chéreau will Konzentration auf das Wesentliche. Die Personenführung ist von bestechender Klarheit.

Einige wenige Eigenheiten der Produktion fügen Nuancen hinzu, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Erstens tanzt sich Elektra nicht zu Tode: Während der brachialen Finalakkorde starrt Elektra (Evelyn Herlitzius) verdorrten Blicks ins Leere. Zweitens verlässt der nach geschehener Tat nicht minder desillusioniert wirkende Orest (Michael Volle) schleppenden Schritts den Atriden-Patio auch schon wieder. So mündet blutrünstige Rachsucht in bitteröde Gegenwart.

In diesen kargklaren Bezugsrahmen stellt Chéreau (oder stellte, Chéreau verstarb nach der Aixer Premiere) die Sänger.

Die von den Dämonen der Rachsucht wie von bösartigen Tumoren inwendig zerfressene Elektra singt und spielt also Evelyn Herlitzius. Es ist das Porträt einer Gedemütigten, eines verlorenen Kindes. Herlitzius artikuliert mit Schärfe und Vehemenz, jedes Wort ist verständlich – zumindest für den, der hin und wieder zu den Übertiteln blinzelt. In der hohen Lage durchschneidet ihr faserig-friebriger Sopranklang mühelos das Orchester.

Elektra Staatsoper Berlin Premiere 2016 Barenboim
Escort-Service einmal anders: Waltraud Meier, von Mägden umringt / Foto: Monika Rittershaus / facebook.com/staatsoper/
Verlorener Atridensohn

Schwesterherz Chrysothemis wird von Adrianne Pieczonka verkörpert, schauspielerisch sehr präsent (eine großgewachsene Bühnenfigur, deren flehend ausgestreckte Arme nichts, aber auch gar nichts Fad-Theaterhaftes haben), vokal ungeheuer kraftvoll, sich bis zum hochdramatischen Gesang steigernd. Was Prägnanz der Deklamation und Textverständlichkeit angeht, steht Pieczonka gleichwohl hinter Herlitzius und Meier deutlich zurück. Mehr noch: In den großen lyrischen Bögen der Partie bleibt die Kanadierin expressive Ausdrucksnuancen schuldig.

Als Klytämnestra hat Wagner-Veteranin Waltraud Meier (elegant aufragend) noch die sehrenden Spitzentöne. Selten stand eine Klytämnestra der Elektra seelisch so nahe. Selten beugte sich eine Klytämnestra erlösungsbedürftiger (und -bittender) zur eigenen Tochter hinab. Dabei steht Waltraud Meiers Textausdeutung mittels expressiver Färbungen stets im Dienst feiner Rollencharakterisierung. Gleiches gilt für die Phrasierung. Es gibt inzwischen klangvollere, doch kaum ausdrucksvoller agierendere dramatische Mezzos.

Orest, den verlorenen Atridensohn, legt Michael Volle mit kernigem Bariton hin, die Würde des Rächers wie die Angst des Bruders mit souveräner Diktion und expansiver Phrasierung beglaubigend. Als von der Regie bewusst blass gehaltener Anzugträger Aegisth steuert Stephan Rügamer energische Tenortöne bei.

Die kleinen Rollen.

Den Pfleger des Orest singt Bass-Oldie Franz Mazura. Aufseherin (sowie Vertraute) singt eine nicht ganz unbekannte amerikanische Sopranistin namens Cheryl Studer, deren wild flackernde Sopranspitzen in der Mägdeszene einer der – wenn auch sehr kurzen – Höhepunkte des Abends sind. Florian Hoffmann verkörpert mit angestrengter Höhe den jungen Diener. Donald McIntyre, ein gleichfalls nicht vollkommen unbekannter Bassbariton, singt erfolgreich den in sympathischem Schlohweiß behaarten Diener.

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Mykenische Rudelbildung: Das kommt in den besten (Atriden-)Haushalten vor / Foto: Monika Rittershaus / facebook.com/staatsoper/

Die Mägde werden von der riesigen Altistin Bonita Hyman, den schlank aufragenden Mezzos Marina Prudenskaya (auch Schleppträgerin) und Katharina Kammerloher sowie von Anna Samuil (vollstimmiger Sopran) und der sich rührend für die Königstochter Elektra verzehrenden Roberta Alexander (ebenfalls Sopran) gesungen..

Wild durchfiebert

Daniel Barenboim gibt die auch heute noch grandios komplexe Elektra-Partitur als unentwegtes Wogen und Strömen, Girren und Jaulen, prächtig überhitzt und wild durchfiebert. So hochgeregelt, klingt die Strauss’sche Familientragödie wie der musikalische Urknall des 20. Jahrhunderts. Eine gleichsam hundertzüngige Staatskapelle Berlin entfesselt eine Farbpracht, einen bunten Reichtum an Gesten, der selbst konzentriertes Zuhören überfordern kann.

Hinweg mir dir, finsteres Frühzeitpathos! Denn Barenboim dirigiert vitalistisch, geradezu jugendstilig dahinschwellend. Die kühne Kompaktheit des Agamemnon-Motivs scheint heuer von vibrierendem Leben erfüllt. Gerade so, als wehte durch das Haus der verruchten Atriden schon ein Lüftchen aus einer ganz anderen, einer Rosenkavalier-Welt. Dennoch: Wenn ich mich nicht täusche, so wird Barenboims Elektra-Dirigat wohl nicht an die immense Qualität der Wagner-Dirigate heranreichen. Dazu scheint mir der Alfresco-Furor der Staatskapelle bisweilen zu pauschal.

Tempomäßig tendiert die Staatskapelle zu ganz leicht breiteren Tempi, ungeachtet manch wilder Crescendi.

Kritiken der Elektra-Premiere der Staatsoper:
Wie ein Rufen aus der Vorzeit“ (rbb-online.de)

Kritiken der Inszenierung von Patrice Chéreaus Elektra:
Elektra at the Met Does Full Justice to Strauss’s Masterpiece“ (nytimes.com, Kritik der Met-Premiere mit Nina Stemme, April 2016)
Patrice Chéreau directs with radical compassion“ (guardian.co.uk, Kritik des DVD-Mitschnitts, Dez. 2014)