Entspannt und locker geht es auch bei den letzten zwei Tagen von Ultraschall Berlin zu. Maske, 2G+Booster, Ausweiskontrolle, ausreichend Platz, Leute, die vernünftig sind – dann klappt das auch mit dem Festival, selbst wenn das Virus durch Berlin schwappt. Gut auch, dass es anders als bei den diesbezüglich arg gebeutelten Berliner Opern nicht zu Veranstaltungsabsagen kommt.
Wie viel wert ist ein Neue-Musik-Festival ohne zumindest eine kurzfristig über den Haufen geworfene Programmfolge? Beim Konzert des Berliner Ensembles LUX:NM beginnt man also jetzt mit Stresstest des 50-jährigen Isländers Steingrímur Rohloff, das auf beharrliche Ostinati setzt und in jedem Takt grundsolides Handwerk ausstrahlt. Dass LUX:NM ein Schlagzeug-basiertes, Blechbläser-fundiertes Klangbild bevorzugt, hört man sogar einem über weite Strecken so verschwiegenen Stück wieC’est une volupté de plus von Philipp Maintz an. Ähnlich tönt A map of horizons des jungen Niederländers Jesse Broekman, das in wolkig verhangenen, aber sehr genau ausgehörten Strecken zu sich findet. Es finden sich schöne Blechbläsertrios in dem Stück (Rike Huy, Trompete, Ruth Velten, Saxophon, Florian Juncker, Posaune).
Ultraschall Berlin geht ins zweite Pandemie-Jahr. Nach der Online-only-Ausgabe von 2021 offeriert man dem erwartungsfrohen Publikum im Jahr 2022 wieder dreizehn Präsenzkonzerte, die an drei Spielorten gebündelt werden. Flankiert wird das klassische Präsenz-Angebot durch eine dicht gestaffelte Folge von Live- oder Fast-Live-Übertragungen, die von den Festival-Trägern Deutschlandfunk Kultur und RBB passgenau ausgestrahlt werden, oft zu bester Sendezeit.
Los geht Ultraschall Berlin ganz traditionell im Haus des Rundfunks an der Masurenallee, Traditionen zählen auch bei Neuer Musik.
Dort, im gediegenen Ulmenholztrapez des Großen Sendesaals, setzt das Deutsche Symphonie-Orchester die erste Ultraschall-Duftmarke. Auf dem Programm stehen Ammann, Francesconi und Djordjević. Gleich zu Beginn stellt Glut des 1962 geborenen Dieter Ammann (2016) ein vitales, hypertrophes und überaus materialsattes Klangbild in den Saal. Die Partitur fordert u.a. 14 erste Geigen, Harfe, 4 Trompeten. Man spürt, dass das 18-minütige Werk von einem Komponisten-Mastermind gesteuert wird, das weiß, was es kann. Das lärmt perfektionsdurchdrungen und strukturagil. Und so makellos, dass es mich – Kritik hin oder her- unberührt lässt. Ganz anders, nämlich leicht und locker, erspielt sich das Deutsche Symphonie-Orchester das Konzert für zwei Klaviere von Luca Francesconi, geboren 1956 (das Stück heißt auch Macchine in echo). Pianistische Gesten blitzen auf. Sparsam, aber tastenintensiv setzt Francesconi Höhepunkte. Die Struktur bleibt trotz lustiger Echoeffekte flink und durchhörbar. So ergibt sich eine leichtfüßige Komplexität. Überhaupt ist ein gewisser italienischer Charakter herauszuhören, was die rationale Eleganz der Schreibweise angeht. An den Flügeln sitzen die Solisten der Uraufführung 2015, Andreas Grau und Götz Schumacher. Sie spielen so kühn wie möglich und so genau wie nötig.
DSO: Ammann, Francesconi, Djordjević
Quicksilver (Quecksilber, 2016 beim BRSO) von Milica Djordjević wirkt dagegen magisch und unheimlich. Der Zuhörer steht hier einer mikroskopisch gedachten Material- und Dingerkundung gegenüber. Glissandi stehen für die Flüssigkeit des titelgebenden Elements. In Quicksilver erkundet Djordjević quasi für uns das Schwarmverhalten musikalischer Atome. Was beim gelegentlichen Vorab-Hören auf YouTube „nur“ nach, freilich ziemlich guter, orchestraler Feinmalerei klingt, entfaltet live eine räumliche Struktur, eine amorphe Mikrokinetik, die überrascht und einnimmt. Umso besser, dass das DSO die Gelegenheit beim Schopfe packt, seine Rundfunkklangkörpersouveränität demonstriert und unter Jonathan Stockhammer selbstverständlich helltönig und detailwach spielt.
Das livegestreamte Philharmonikerkonzert am Samstagabend war hörenswert. Barenboim springt für Mikko Frank ein, und Yefim Bronfman spielt Brahms, 1. Klavierkonzert. Beim ersten Hören spielt Bronfman fesselnd, konzentriert, immer lebendig.
Die Triller des Themas donnert Bronfman nicht in schneidendem Gleichmaß, stattdessen will er jeden Ton einzeln hörbar machen. Beim 2. Thema spielt die linke Hand die Figurationen als Formungen von wunderbar eigenem Gewicht. Es ist ein wirklich eindrucksvolles Konzert von Bronfman, der gebürtig aus Taschkent stammt, Israeli und US-Amerikaner ist („this sturdy little barrel of an unshaven Russian Jew“, schreibt Philip Roth in Der menschliche Makel). Bronfman spielt kraftvoll, der Ton ist breiter als bei Trifonow, der Musizierfluss überlegener und gelassener.
Und wie viel Raum nimmt sich der Pianist plötzlich bei der Reprise des Hauptthemas, trotz der kompakten Gedrängtheit der berühmten Trillerketten. Im Adagio setzt Bronfman die Akkorde über den Hörnern aus selbstverständlichster Werk-Vertrautheit heraus natürlich und unvorstellbar sicher. Bronfman drängt nicht, kein Milligramm seines Spiels rutscht in selbstgewisse Virtuosität ab.
Zu Hause, via Concert Hall, hört man Bronfman beängstigend detailliert, vermutlich baumelt das Hängemikro direkt über dem Instrument. Live klingt das Klavier in der Philharmonie ja meist, als käme sein Klang direkt aus dem Orchester, aus Celli oder Bratschen, flankiert von den Bläsern, und obendrauf die Flöten, wie eine fünflagige Schwarzwälder Kirschtorte.
Ultraschall Berlin läuft auf Hochtouren. Ultraschall-Etappe Nr. 4 verschlägt es ins Radialsystem V – der Festival-Tag ist vollgepackt mit vier Konzerten. Neue-Musik-Fans können froh sein, bis kurz vor Mitternacht gibt es Festivalprogramm satt an diesem januarsonnigen Berliner Wintertag.
Vier Notenständer, Minguet Quartett, Sarah Nemtsov
Den Start macht um 14 Uhr das Minguet Quartett mit Sarah Nemtsov. Kompositionen der Berliner Komponistin bilden einen Schwerpunkt des diesjährigen Festivaljahrgangs. Nach dropped.drowned am Mittwoch folgen heute drei weitere Nemtsov-Werke. Zwei davon spielen die Minguet-Leute im großen Saal: IRA (von 2013) und weggeschliffen (von 2018). In IRA kommt die Paetzoldbassflöte oder Subgroßbassblockflöte zum Einsatz, das vermutlich hässlichste Musikinstrument. Aber Nemtsov spendiert diesem viereckigen Holzblasungeheuer einen spannenden, extrem kurzweiligen Ausflug in die Gefilde heftiger Flötengestik mit allem Virtuosenschnickschnack inklusive Überblasen, perkussiver Einsätze und Geräuscherkundung. Und wie oft bei Nemtsov bedingen sich Schärfe des Details und schlüssige Dramaturgie gegenseitig. Flötist Jeremias Schwarzer verlangt sich und dem Instrument alles ab.