Die Omikronwelle schwappt immer noch über das mehrheitlich geimpfte Berlin hinweg, und die durchgeboosterte Philharmonie ist rappelvoll. Das ist Normalität, die gut tut. Zu viel Normalität lassen die Berliner Philharmoniker aber nicht einkehren. Firmiert als Hauptwerk heute doch Josef Suks schier vergessenes Tongemälde Lebensreife.
Trotzdem ist zweieinhalb Jahre nach Petrenkos Antrittskonzert, nach nicht reibungsloser Neuwahl mitsamt mehrmonatiger Vakanz, im aktuellen Philharmonikerkalender beruhigende Routine eingekehrt. Da rivalisiert Abo-Kernrepertoire – Feuervogel, Schostakowitsch, Brahms – mit unverkennbar Rarem (Sinigaglia, Schulhoff Zweite). Daneben hat man Zeit für deutsche Sonderwege, Hindemith Metamorphosen, Hartmann Violinkonzert.
Heute hört man im Haus am Herbert-von-Karajan-Platz spektakulär raren Suk, kombiniert mit edelster Berliner Repertoireroutine, Brahms‘ B-Dur-Konzert.
Jetzt macht Petrenko auch einen Mini-Zyklus Brahms. Diese Woche erklingt der Publikumsrenner D-Dur-Sinfonie und nächste Woche das mächtige B-Dur-Konzert (mit Schiff). Das ist erstmal gediegenes Philharmoniker-Business, as usual halt und ziemlich erwartbar. Interessanter ist, was neben Brahms passiert. Da stehen ein Hauptwerk eines spezifisch deutschen Expressionismus, Zimmermanns Photoptosis, und die burschickose Nachkriegs-Erste des Polen Lutosławski auf dem Zettel (oder dem Download-Programm).
Unter einem sichtlich genesenen, vital beweglichen Petrenko (Silvester-Hexenschuss, ade) legen die Philharmoniker das kalt lodernde Photoptosis hin. Ich höre abwechselnd gläsern lauernde Farbschichtenstatik (die Farben kommen aus dem Giftschrank) und dramatisch durchleuchtete Durchbrüche. Petrenko sucht nicht die expressive Zermalmung. Über dem Musikgetümmel schwebt bei Petrenko die makellose Struktur. Zimmermann dürfte es freuen.
Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).
Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.
Die kurzfristige Absage Petrenkos (die Intendantin: „Hexenschuss“) ruft in Berlin Grübeleien aller Arten hervor. Was ist mit Petrenko? Gibt es Stress? Wie ist das Verhältnis zum Orchester? Lahav Shani springt – äußerst kurzfristig – ein. Der ist jung, aber mit seinen 32 Jahren schon ausreichend erfahren.
Los geht es mit der Fledermausouvertüre. Die klingt nicht spritzig-frivol (wie an der Komischen Oper), sondern gediegen symphonisch. Und in einem höheren, wienerischen Sinne durchaus harmlos.
Ich habe so etwas wie Toscanini-Tempo erwartet. Doch Petrenkos Tempo bei den Berliner Philharmonikern ist alles andere als rasant. Nächste Überraschung. Petrenko wiederholt die Exposition (bin immer so dankbar, wenn das jemand macht). Sofort verwandelt sich die Musik in etwas Gedämpftes, Geheimnisvolles, fließen die Geigen (was sie zuvor bestimmt auch schon getan haben, aber jetzt höre ich es). Die hinreißend dramatischen Forte-Stellen hebt Kirill Petrenko nicht übermäßig heraus, keine Spur von Knalligkeit wie weiland beim Solti. Sondern fließen über vor lauter einzeln hörbaren Binnenstimmen. Die Reprise beginnt spektakulär unspektakulär: zögerndes Zaudern. Haarsträubend gut ist das, Takt für Takt. Und die Sturmepisode der Coda schallt, als wäre Mendelssohn nicht in Schottland, sondern in Dresden im Fliegenden Holländer gewesen. Im Scherzo blitzt eine Wärme, eine entfesselte Klangintelligenz auf.
Ich höre Digital Concert Hall. Der Reclamführer (Ausgabe Neunziger) leistet sich einige kapitale Dummheiten bezüglich der Sinfonik Mendelssohns. „Es ist gewissermaßen ein ‚Stil des geringsten Widerstandes‘. Er bewegt sich ungekünstelt im Rahmen dessen, was man erwartet… tragische Akzente darf man in der Musik dieses Glücklichen, von Kämpfen Verschonten nicht suchen.“ Wie herablassend, wie makaber, wie falsch.
Geht jetzt alles ganz schnell? In München hörte man die Walküre live vor Drittel-Publikum mit Davidsen und Kaufmann. Weitermachen will man am Max-Joseph-Platz mit Lehár und Reimann. Die Deutsche Oper Berlin plant ihre Rückkehr am 13. Juni mit einem Don Carlo im Kurzdurchlauf – inklusive Mezzo-Röhre Anita Rachwelischwili. Was vor zwei Wochen noch wie ausgemachter Opern-Irrsinn schien, wirkt heute dank überall sinkender Kurven auf einmal sehr realistisch.
Bis es soweit ist, füllen die Orchester flexibel wie Einsatztrupps des THW die Live-Lücken mit Streams und Radiokonzerten. Und das Konzerthausorchester erreicht mit Currywurst und Harfe auf twitch ziemlich locker knapp eine Viertelmillion Aufrufe.
Das Berliner Maierlei beginnt mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Jakub Hrůša führt das RSB auf frühlingsneues Hör-Terrain. Zu Beginn das Frühwerk Adagio für Orchester des Ost-Mähren Leoš Janáček, ein dunkel fließendes d-Moll-Klangbild mit leidenschaftlich erregtem Mittelteil. Melancholische Posaunen beschließen. Zu zwei selten gehörten Violin-Juwelen steuert Frank Peter Zimmermann den Solopart bei. Zuerst in Béla Bartóks konzentriert folkloristischer Rhapsodie Nr. 1, dann in der ingeniös bunten Suite concertante (1944) von Martinů. Zimmermann spielt beneidenswert. Hält er Bartóks zweisätzige Rhapsodie mit aller gebotenen nüchternen Grandeur auf Linie, lädt Zimmermann anschließend Martinůs viersätzige, aber herrlich knapp dimensionierte Konzertsuite mit sachlicher Gestik und verschmitzter Kraft auf. Zimmermanns Ton ist so klar, wie es eigentlich nur sein immenses Können gestattet, der Ausdruck so intensiv, wie die Musik es erlaubt. Die Slowakische Suite von Vítězslav Novák (1903) fällt in die Kategorie gediegene Tondichtung. Die Sätze heißen In der Kirche, Unter Kindern, Beim Tanz, Die Verliebten, In der Nacht. Ich hören ein Genre-Werk ohne anekdotische Zuspitzung. Hrůša sorgt für Freude am hellen Klang.
Drögere Musikwochen waren nie als jene sechs seit dem Jahreswechsel. RSB und die Opern schweigen Corona-beredet. Das DSO produziert immerhin einen Konzertfilm mit 20 Minuten Musik. Neben den Philharmonikern (2 x) bringen nur Ultraschall Berlin und im Boulezsaal die Schubert-Woche Abwechslung. Fern von Berlin ist die Zurückhaltung weniger streng. Barenboim tritt in Salzburg auf, im Duo und dirigierenderweise. Ticciati dirigiert am 5. 2. in München, Eschenbach am 4. 2. in Frankfurt. Und die Solo-Oboistin der Staatskapelle, Cristina Gómez Godoy, fährt nach Hamburg, um dort ein kleines, feines Programm zu geben. Wo bist du, Berlin? Doch am zweiten Februarwochenende feuern die Berliner Orchester wie gewohnt aus allen Rohren. RSB, DSO, Philharmoniker, dazu Staatsopernpremiere – (fast) alle sind dabei.
Als erstes wagt sich am 12. 2. das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit einem Radiokonzert aus der Deckung (Deutschlandfunk Kultur). Mit einem kleinbesetzten, nur etwas grämlich wirkenden Abend. Zuerst Tschaikowskys reizvoll elegische Streicherserenade C-Dur, sodann von Schostakowitsch/Barschai die Kammersinfonie op. 83a. Wassili Petrenko (Liverpool Philharmonie Orchestra) leitet breit bei Tschaikowsky und flott bei Schostakowitsch. Aber irgendwie hat man sich die Wiederauferstehung aus den Tiefen der Pandemie anders vorgestellt. Die nächsten Termine versprechen mehr Effekt: Repušić kommt und bringt den Kroaten Papandopulo mit, dazu Haydn und Respighi, und dann spitzklöppelt die Pianistin Anna Winnitzkaja die beiden Schostakowitsch-Konzerte in die Tasten. Hier Nachhören!
Im Rahmen eines „Online-Festivals“ spielen die Berliner Philharmoniker zwei Wochen lang „Goldene Zwanziger“ – ein kräftiger Schluck Berlin-Nostalgie ist in diesen Zeiten erlaubt. Vorgesehen war eigentlich die ambitionierte Bezeichnung „Biennale“. Drei Orchesterkonzerte (Schwerpunkt Weill) sind angesetzt, dazu kommt ein Abend mit der Karajan-Akademie (Eisler, Weill), bevor ein Late-Night-Abend das Festival abrundet. Am Samstag stehen Weills 1. Sinfonie – zum ersten Mal – und Strawinskys karger Oedipus Rex auf dem Programm. Das Weill-Frühwerk – ein Jugendstreich, komponiert mit 21 – klingt wie aus einem Guss, gerade weil es sich stürmisch nach der großen Form reckt. Fast Ritornell-artig kehrt das Motto der Grave-Einleitung (breit und wuchtig) wieder, bis das Orchester es, nach Choral-Tönen, schlussendlich zu dreifachem Forte aufschichtet (Grave. Mit höchstem Aufschwung). Dabei fließt dieser Weill unter Kirill Petrenko hochkultiviert. Dabei verbandelt das Orchester die drei Abschnitte mit viel Klang- und Formsinn zu aufregender Einsätzigkeit. Das ist symphonisch gespannte Musik, erfrischend unfertig und leidenschaftlich brennend. Parellelen zu Kreneks 1. und Prokofjews 2. Sinfonie bestehen.
Ein Experimentierfeld der Moderne ist auch Oedipus Rex von Strawinsky, wo die Neu-Antike für strenge Kanalisierung der Gefühle sorgt. Aber ich wechsle um kurz nach 8 flugs zu Rattle an die Staatsoper, wo Janáček den Gefühlen freien Lauf lässt.
Echt spitze ist das Radiokonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters am Sonntag (RBB). Haydns generöse Sinfonie 104, Widmanns 1. Violinkonzert, und vorneweg eine Viertelstunde Orchester-Improvisation, mittlerweile eine Spezialität unter Robin Ticciati. 14 Musiker ohne Dirigent, Ticciati steht laut Moderatorinnenauskunft an der Trommel. Es klingt schauderhaft. Man versteht umgehend, zu was ein Komponist da ist. Aber das sind faszinierende Experimente. Und die Improvisationen im dritten Konzertfilm (in der ehemaligen Hundefutterfabrik, der mit Musik von Adámek) fesselten. Also: gerne weitermachen. Weiter zu Jörg Widmann. Der gilt innerhalb der Neue-Musik-Gefolgschaft als unsicherer Kantonist. Doch was zählt schon der Begriff „Neo-Romantik“ – Glenn Gould benutzte die Umschreibung bekanntermaßen für Alban Berg, dessen Konzert wiederum Vorbild für Widmanns Werk ist -, wenn sicherstes Klanggefühl, Weiträumigkeit, verwickelte lyrische Passagen so gekonnt verschmelzen wie im Violinkonzert Nr. 1 (2007)? Sicherlich, der Ton entstammt spätromantischem Fundus. Aber dafür verschmilzt die Linie raffiniertissimo mit dem Orchester. Außerdem hat Christian Tetzlaff, auch Solist der Uraufführung, das Werk rund 40 Mal gespielt, gestaltet aus einem Atem, vermittelt den Eindruck einer kontinuierlich fließenden Entwicklung, und das, ohne an Detailintensität zu sparen. Mittlerweile habe ich ein Ohr für Widmann. Aus dem Bauch raus würde ich sagen, dass Ticciati sehr gut leitet.
Mittwoch, 20. 1. 2021, Konzerthaus. Ivan Fischer wird 70. Das Konzerthausorchester gratuliert mit der Aufführung von Fischers Komposition Eine deutsch-jiddische Kantate auf jiddische und deutsche Texte. Anna Prohaska singt bestechend klar und verhangen, so wie nur sie das kann. Peter Dörpinghaus trompetet mit akkuratestem Gefühl. Das Geburtstagskind dirigiert vorzüglich.
Dienstag, 26. 1. 2021, BKA-Theater. Unerhörte Musik sendet wieder, heute mit dem Ensemble lovemusic aus Winnie Huang (Geige), Lola Malique (Cello), Emiliano Gavito (Flöte), Adam Starkie (Klarinette). Man beginnt mit US-Minimalismus von Pauline Oliveros (Sonic Meditation 1 Teach Yourself to Fly, 1974, interessanter gruppentherapeutischer Einschlag), geht zu Carola Bauckholt und den locker delikaten Luftwurzeln von 1993 über und landet bei der Kolumbianerin Violeta Cruz, die in New Piece fast ein Konzert für Aufdrehfiguren schafft. Der Ton ist eigen, die Textur licht und angemessen surrealistisch (Uraufführung). Auch Cove von David Bird ist eine Uraufführung. Das Werk gibt sich einem unaufhörlichen Fließen hin, und was so entsteht, kann als intimes Palaver zwischen entspannten, hochkonzentrierten Musikern beschrieben werden. Schlussendlich von Sivan Cohen Elias das dicht komponierte Air Pressure (2010), ein Stück voller Kontrastspannungen und rabiater Virtuosität, in dem sich die Töne wie von selbst vermehren.
Freitag, 29. 1. 2021, Philharmonie. Die frisch getesteten Berliner Philharmoniker spielen Thorvaldsdóttir (Neues), Prokofjew (Konzert), Suk (Tondichtung) – in der Philharmonie konzertiert man wieder abendfüllend. Das neue Werk von Anna Thorvaldsdóttir heißt Catamorphosis. Es zielt auf vom Strom der Zeiten glattpolierte Klangräume, auf geheimnisvolle Unisono-Glissandi, also auf das große Ganze. Die handwerklich wie klanglich beeindruckende Komposition passt ins Zeitalter der digital perfektionierten Landschaftsaufnahmen und Arktiskreuzfahrten in 1.-Klasse-Kabine.
Prokofjews hübsches Klavierkonzert Nr. 1 klingt heuer heiter. Trifonow triumphiert. Eine flüssigere Technik gibt es nicht. Es klingt heiter, flüssig und unvorstellbar vollkommen. Bis weit ins Scherzo hinein wird fast akzentlos gespielt – Trifonow, der Profkofjew-Klassizist. Der Ton klingt – zumindest in digitale Bits verpackt und mit 16.000er Leitung – wie auf Diät, superschlank, aber Leidenschaft fehlt. Das Des-Dur-Thema turnt Daniil Trifonow hinauf, als hätte er Ballettschlappen an. Der Russe packt seine stählerne Kraft in Strickhandschuhe. Das Opus 10 von 1911 klingt aufgeräumt, nicht aufgezäumt. Keine Spur von brillantem Futurismus, von überschäumender Argerich-Kompliziertheit, von Richter-Wucht. Man höre Abbado und den umwerfenden Kissin. Und hat selbst Trifonow nicht schon mit Gergiew mehr klirrenden Bizeps, mehr Chuzpe gezeigt? Folgt also das Andante. Trifonow hängt über den Tasten wie eine entkörperlichte Lemure.
Alles easy? Von wegen, der Klassikbetrieb ist voll im Corona-Modus. Und meist ist verschoben doch aufgehoben, gecancelled, abgesagt. Business as unusual eben. Man ist froh über das Wenige, das hinter geschlossenen Konzerthaustüren gespielt wird.
Zum Beispiel über das Deutsche Symphonie-Orchester. Das packt die Gelegenheit beim Schopf und macht da weiter, wo es 2020 aufgehört hat: beim Konzertfilm. Dieses Mal filmt das DSO samt Chefdirigent RobertTicciati aus dem Club Sisyphos an der Rummelsburger Bucht. Man sieht, wie das Orchester sich zwischen Warmspielen und Großgruppentherapie unter Anleitung von Ondřej Adámek auf das, was kommt, vorbereitet. Bei 3:20 fließen Zuschauer und Zuhörer langsam zu Dusty Rusty Hush von Adámek über, das mit seinen frühindustriell verdüsterten Pulsationen durchaus als Hommage an die coole Club-Kulisse taugt.
DSO-Trompeter blasen der Club-Kultur den Marsch / Foto: Livesteram DSO
Die Kamera nimmt flink die Musiker ins Visier: Tubisten aus der Frosch-, Schlagwerker aus der Vogelperspektive. Das passt zum Flow der Musik, ist nicht aufdringlich, weil sie zeigt, dass es um Konzentration geht, um Arbeit, um Musik“machen“. Derweil geht es in Dusty Rusty Hush um Geburt, Ausschwingen, Abebben und Wiedergeburt rhythmischer Prozesse – die in bester tondichterischer Tradition immer auch als Fabrikprozesse deutbar sind. Als Stück nach dem Stück folgen daraufhin flüsterleise Improvisationen: Geige, Klarinette, Posaune. Selten sieht man so intensiv, wie Musiker Kollegen beim Musikmachen zuhören.
Mini-Ensembles im BKA, Petrenko mit Russischem
Dem Virus ein Schnippchen schlagen. Das ist genau das, was die Konzertreihe Unerhörte Musik tut. Live streamt sie aus dem BKA-Theater am Mehringdamm, und zwar jede Woche dienstags. Mit Mini-Ensembles verteidigt man klug die Freiräume, die das gestrenge Virus lässt. So erklingen im ersten Januar-Konzert Trios für die Besetzung Geige, Klavier und Gitarre (Emily Yabe, Ermis Theodorakis, Martin Steuber). Die Werke von Gabriel Iranyi (Blicke auf Hiroshima), Art-Oliver Simon (nilreB) und Michael Quell (A Blurring Cloud) sind umso reizvoller, je karger sich die äußere Klanggestalt gibt. Wer den spartanischen Live-Klang goutiert, findet hier vorzügliche Interpretationen relativ unbekannter Werke abseits ausgetrampelter Programmpfade.
Dem Virus ein Schnippchen schlagen: Konzertreihe Unerhörte Musik/ Foto: Livestream BKA-Theater
Bleiben noch die Berliner Philharmoniker, die aus der virusleeren Philharmonie ab 9,90€ in die globale Musikgemeinde streamen. Zu hören sind, selten genug, drei Symphonische Dichtungen, und das en suite. Das Programm umfasst Romeo und Julia, Toteninsel und Francesca da Rimini, und immer heißt die Botschaft: Tod. Kirill Petrenko tischt das Tondichtungs-Trio phänomenal akkurat auf, vereint kammermusikalische Tugenden mit der blendenden Präzision des Orchesterdompteurs. Der Klang ist flüssig und hell, spartanisch und schlank, auch in den gleißenden Explosionen. Es gibt bei Petrenko ein heißes Herz. Und doch klingt es bisweilen, als hätte er Angst, auch nur ein Schnipselchen eines Meisterwerks unter den Tisch fallen zu sehen. Das Ergebnis fällt für die einzelnen Werke unterschiedlich aus. Bei Romeo und Julia von Tschaikowsky bleibt etwas Unerfülltes im Klang. Mein Eindruck: die Fantasie-Ouvertüre kann sich aus dem Korsett des Tempos nie ganz befreien (war bei Karajan genauso. Dessen Romeo ist eine seiner weniger wichtigen Aufnahmen).
Das Virus legt die Axt auch an die reiche Silvesterkonzert-Kultur. In Berlin erklingt keine Beethoven-Neunte, weder von Staatskapelle noch von RSB. Das DSO spielt nicht sein traditionsreiches Zirkus-Konzert und in Deutscher und Komischer Oper schweigt die Operette. Immerhin streamen die Berliner Symphoniker unter dem verheißungsvollen Titel Feuer der Leidenschaft mitten am Silvesternachmittag prickelnde Kost von Strauß, Delibes, Offenbach, Bizet und Paul Lincke. Bernhard Steiner dirigiert, und Anna Werle singt mit echt halbseidener Stimme Ah! Que j’aime aus der Großherzogin von Gerolstein und das Schwipslied aus der Nacht in Venedig. Und Paul Lincke (Berliner Luft) ist doch der alleinige und einzige Berliner Johann Strauß.
Anna Werle: Irgendwas prickelt und kitzelt im Blute
Wenig später bitten die Berliner Philharmoniker in der Digital Concert Hall zum wie immer Party-tauglich früh terminierten Silvesterkonzert, Punkt 18 Uhr. Die gute Tradition themenbezogener Silvesterabende führt ja auch Kirill Petrenko fort. Letztes Jahr mit einem US-amerikanischen Mix aus Gershwin und Weill, 2020 segeln die Philharmoniker unter spanisch-lateinamerikanischer Flagge. Für das erste Stück reicht sogar der vage Bezug Sevilla, wo bekanntlich Beethovens Oper Fidelio bzw. Leonore spielt. Von den insgesamt vier von Beethoven komponierten Ouvertüren erklingt die ein ernstes Jahr ernst verabschiedende Leonoren-Ouvertüre Nr. 3.
Berliner Philharmoniker: unter spanischer Flagge
Dann beginnt der recht unterhaltsame, spanisch inspirierte Melodienreigen. Zwei wirkungsvolle Stücke aus Manuel de Fallas El amor brujo machen den Anfang. Sodann folgt Joaquín Rodrigos flottes Concierto de Aranjuez von 1940, das der spanische Gitarrist Pablo Sáinz-Villegas mit vornehm gezügelter Eleganz hinlegt und das Petrenko supergenau in die leere Philharmonie zirkelt. Es ist auch Sáinz-Villegas, der anschließend die Spanische Romanze eines Anonymus mit durchnuanciertem Vibrato veredelt. Von Villa-Lobos dann die wirkungsvollen Bachianas Brasileiras Nr. 4 (1941) und von Rimsky-Korsakow das eher unbekannte, chamäleonhaft farbchangierende Capriccio espagnol mit dem schönem quasi guitara der Streicher im canto gitano. Das Adiós kommt heute von Schostakowitschs frech versierter Filmmusik-Suite Die Hornisse.
Eine ungewöhnlich ruhige Silvesternacht später sendet der ORF aus dem Großen Musikvereinssaal das Wiener Neujahrskonzert. Natürlich auch ohne Publikum. Die Wiener Philharmoniker geben sich pünktlich um 11 Uhr 15 die Ehre. Es leitet – zum sechsten Mal – Riccardo Muti.
Los gehts mit Franz von Suppés handfestem Fatinitza-Marsch. Von Johann Strauß (Sohn) sodann der Walzer Schallwellen, den Eduard Hanslick 1854 herb kritisierte (falsches Pathos, klägliche Akkordfolge), der behäbig-sinfonisch und mit hübschen Oboen-Figuren verziert anhebt – einfach bezaubernd. Weiter geht es mit der russisch überzuckerten Niko-Polka. Und von Johanns Bruder Josef stammt die Schnell-Polka Ohne Sorgen!, ein geradezu idealer Titel für ein Neujahrskonzert. Carl Zellers Grubenlichter-Walzer von 1894 beweist, dass auch im Wien der 1890er Verismo-Tendenzen goutiert wurden, die zugehörige Bergwerks-Operette hieß übrigens Der Obersteiger. Von Carl Millöcker, dem Komponisten des Bettelstudenten, auch er ein Wiener, ertönt der Galopp In Saus und Braus.
Die Wiener Philharmoniker: Walzer, Galopp, Schnell-Polka, Marsch, Quadrille, alles dabei
Der zweite Teil des 1.-Jänner-Konzerts beginnt mit Suppés noch von Weber’scher Brillanz und Donizetti’schem Ouvertüren-Brio gezeichneter Ouvertüre zu Dichter und Bauer (1846). Gut fürs Gemüt ist das Duo aus Cello und Harfe auf jeden Fall.
Neujahrskonzert: volkstümliche Allüre und Tanz-Bravour
Für uns Nicht-Österreicher, die wir den Kaiserwalzer ständig mit Der schönen blauen Donau verwechseln, hält das Neujahrskonzert auch dieses Jahr wieder interessante Österreichiana bereit.
Zu Saisonbeginn gab es die Neunte von Beethoven. Jetzt traut sich Petrenko an die Sechste von Mahler. Auf Utopie und Jubel folgt nun also Schicksal und Menschenweh. Und man kann sagen: Nach einem hochinteressanten Abend in der Philharmonie ist Kirill Petrenko wieder ein Stückchen mehr in Berlin angekommen.
Denn noch läuft die Phase gegenseitigen Beschnupperns. Was macht er? Wie ist er? Wer ist er? Den neuen Chef gibt es ja bislang nur häppchenweise – der Russe und Wahlösterreicher dirigiert gern und oft an der Bayerischen Staatsoper, und das bis 2021. Schwankte das Suk-Beethoven-Programm vor zwei Wochen noch zwischen apart und Routine, so ist die Sinfonie Nr. 6, die es jetzt in der Philharmonie zu hören gibt, jedenfalls alles andere als ein Häppchen. Und Petrenkos Zugriff gehört ganz Petrenko. Das ist gut. Wenn auch noch längst nicht alles rund läuft.
Denn das Maß an (preußisch?) blankgeschliffenem Drill ist enorm. Vorbei sind die schönen Mahler-Tage, da Rattle den Berlinern eine Art sinnlicher (Wahl-)Freiheit ließ. Weiterlesen →
Petrenko mit einem interessanten Abend in der Philharmonie Berlin. Für sein Berliner Konzert mischt der Chef in spe sperrigen Schönberg mit triumphierendem Tschaikowsky. Weiterlesen →
Premiere Otello an der Bayerischen Staatsoper München. Super-Superstar Jonas Kaufmann durchlebt als Otello schwere Verdi-Stunden. Am Ende muss der geflügelte Tenor-Löwe (der alata Leon der Eingangsszene) vokale Wunden lecken. An seiner Seite singen Anja Harteros und Gerald Finley. Otello wird wohl nicht die Kaufmann-Oper par excellence werden. Weiterlesen →
Kaum ist der Sommer da, beginnen für gewöhnlich die Münchner Opernfestspiele. So auch dieses Jahr. Während überall in der Republik die Opernhäuser dem Saisonende zutrudeln (hier in Berlin mit Netrebko), lockt die Bayerische Staatsoper mit illustren Namen die Schönen und die Reichen und die Opernliebhaber an. Und heute gar, am heil’gen Tag der ersten Festspielpremiere, da ich Parsifal von Richard Wagner auf BR Klassik höre. Der Besetzungszettel führt die Namen Kaufmann, Stemme und Pape.