Ich habe so etwas wie Toscanini-Tempo erwartet. Doch Petrenkos Tempo bei den Berliner Philharmonikern ist alles andere als rasant. Nächste Überraschung. Petrenko wiederholt die Exposition (bin immer so dankbar, wenn das jemand macht). Sofort verwandelt sich die Musik in etwas Gedämpftes, Geheimnisvolles, fließen die Geigen (was sie zuvor bestimmt auch schon getan haben, aber jetzt höre ich es). Die hinreißend dramatischen Forte-Stellen hebt Kirill Petrenko nicht übermäßig heraus, keine Spur von Knalligkeit wie weiland beim Solti. Sondern fließen über vor lauter einzeln hörbaren Binnenstimmen. Die Reprise beginnt spektakulär unspektakulär: zögerndes Zaudern. Haarsträubend gut ist das, Takt für Takt. Und die Sturmepisode der Coda schallt, als wäre Mendelssohn nicht in Schottland, sondern in Dresden im Fliegenden Holländer gewesen. Im Scherzo blitzt eine Wärme, eine entfesselte Klangintelligenz auf.
Ich höre Digital Concert Hall. Der Reclamführer (Ausgabe Neunziger) leistet sich einige kapitale Dummheiten bezüglich der Sinfonik Mendelssohns. „Es ist gewissermaßen ein ‚Stil des geringsten Widerstandes‘. Er bewegt sich ungekünstelt im Rahmen dessen, was man erwartet… tragische Akzente darf man in der Musik dieses Glücklichen, von Kämpfen Verschonten nicht suchen.“ Wie herablassend, wie makaber, wie falsch.
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