In der Pandemie läuft so ziemlich alles anders. Die Zeit, das Leben sowieso, die Musik. Gerade auch für Musiker und Orchester. Wer kann, spielt, sendet, streamt. Die anderen schweigen. Und mancherorts schnurrt der Betrieb weiter – mit Publikum. Am Teatro Real in Madrid läuft Norma, das Moskauer Bolschoi zeigt Salome. Wir sind weit weg von jeder Normalität. Da ist man für jedes Lebenszeichen von den Berliner Konzertpodien dankbar.
Zwei Monate hat die Staatsoper geschwiegen. Am 13. 12. streamte man aus dem schweinchenrosa Knobelsdorff-Kubus den Corona-Lohengrin von Bieito. Genau zwei Monate später feiert Jenůfa Streaming-Premiere, ohne Publikum, in vorerst nur einmaliger Aufführung. Die Medienpartner 3sat und RBB senden. Die Oper (tschechisch Její pastorkyňa, Ihre Ziehtochter) von Leoš Janáček ist kristallklarer Verismo, ins Bäuerlich-Tschechische gewendet. Drei kurze Akte, die heutzutage der dramaturgischen Intensität wegen meist in knapp zwei Stunden am Stück runtergespielt werden. Die Oper Jenůfa erzählt von Leidenschaft, von Eifersucht, Leichtsinn, Trunksucht und unerschütterlicher Liebe. Und von dem Wundervollem, das im Menschen steckt. Janáček sieht mit seiner Musik den Protagonisten in die Herzen. Da ist alles gedrängte Substanz, hat alles Schlagkraft, von den motivischen Repetitionsmustern bis zu den glühenden Aufschwüngen. Und das Dorfdrama wendet sich trotz allem Horrormuff sogar zu einem Happy-End, das aufrichtig rührt. Was will man mehr?
Apropos Dorfmilieu. Das präsentiert Regisseur Damiano Michieletto in seiner Inszenierung modern-kühl. Man sieht einen vorne offenen, eisblau hinterleuchteten Kubus aus transparenten PVC-Hohlkammerpaneelen (Bühne: Paolo Fantin). Darin stehen vier Massivholzbänke Typ Ikea Nordby. Mehr Empathie will Michieletto nicht wagen. Richtig vom Hocker haut einen die Baumarkt-Anmutung nicht. In einer Ecke drängt sich schüchtern Ostkrempel: brennende Kerzen, eine Tisch-Monstranz, ein kitschiges Kreuz, vergoldet – letzte Reste slawischer Frömmigkeitsfolklore. Hübsch die Kostümkreationen der Dorfleute, die pi Mal Daumen aus den Siebzigern stammen und deren angegrautes Pastellblau (Carla Teti) seit ein paar Jahren in jeder zweiten Inszenierung zu sehen ist, von Tscherniakow bis Wieler/Morabito. Macht nichts, sieht trotzdem stimmig aus.
Jenůfas Verlobter Števa ist ein Bruder Leichtfuß, aber kein Tunichtgut. Ladislav Elgr (Camouflage-Kittelchen, Sträußlein in der Brusttasche) spielt und singt das packend in aller Partylust und aller stumpfen Verzweiflung. Der treu liebende Laca ist ein sympathischer Tollpatsch mit zerknautschter Miene, der mit spannungsvollem Tenor (Stuart Skelton, zu Anfang bisserl rau) seine Liebste doch noch gewinnt. Die zentrale Figur der Küsterin und Stiefmutter macht Evelyn Herlitzius (in grau-brauner Kostümuniform) zum Ereignis. Ein Sopran wie Stahlwolle. Mit jeder Faser dingt ihre Stimme – essigsauer, gleißend – in die Faltungen dieser vereinsamt-tragischen Persönlichkeit. Vielleicht kann das derzeit niemand besser. Camilla Nylund zeichnet die Jenůfa als eine Frau mit starken Gefühlen, als innerliche, zutiefst zweifelnde Natur, halb Landpomeranze, halb Dorfschönheit. Vor lauter Ich-weiß-nicht-aus-noch-ein klammert sie sich an ein Kräutertöpfchen. Nylund hat die Physis, den Ausdruck, die Farben, die Höhe – nur dass das Tschechische nicht mit Legato-Leichtigkeit, sondern eher mit finnischer Gründlichkeit aus ihrem Mund hervorgelockt wird. Es ist ein gelungenes Rollendebüt.
Genau gezeichnet erscheinen auch die Nebenfiguren. Freilich, die Personenführung könnte mehr Biss vertragen. Als alte Buryjovka bietet Hanna Schwarz (eisgraues Haar) eine packende Gesangsleistung. Man genießt selbst am PC jede Sekunde. Altgesell Jan Martiník ist ein Bär in schlecht sitzender Schlabberhose, speckiger Lederjacke und mit trostlos angeklebtem Altmänner-Scheitel. Auch ein Augenschmaus: der Richter von David Oštrek im Kunstpelzkragen-Mantel und Frisur und Bart à la Solschenizyn. Gleichermaßen gelungene Porträts stellen dessen patente Frau (Natalia Skrycka) sowie die extrovertiert schäkernde Karolka von Evelin Novak dar. Ins gute Ensemble fügen sich die Schäferin Aytaj Shikhalizada (guter Mezzo), die viel Wärme ausstrahlende Barena als Anführerin der Dorfmädls (Adriane Queiroz), der jugendlich aufgedrehte Bursche Jano (Victoria Randem, radschlagend) und die Base Anna Kissjudit (saftiger Mezzo).
Der Wiener André Heller inszeniert in Berlin Der Rosenkavalier des Bayern Richard Strauss. Schön und prachtvoll schaut’s aus in der Staatsoper Unter den Linden. Weiterlesen →
Mit viel Vorfreude gehe ich in den Lohengrin (hört man ja sooo selten), um Groissböck, Vogt, Nylund und Smirnowa mal wieder zu hören.
Aufällig sind die Gemeinsamkeiten von Vogt, Nylund und Gantner, der den Telramund singt. Alle drei singen expressiv zurückhaltend, geben der Musik den Vorrang vor der Deklamation, haben helle Stimmen, kolorieren behutsam, und besonders Vogt und Nylund phrasieren mit viel Erfahrung. Als Fitnessprogramm kann Klaus Florian Vogt die Rolle des Lohengrin (ganz brav mit Ansteck-Flügel) kaum nutzen. Mehr als gemessenes Schreiten sieht die Regie (Kasper Holten) nicht vor. Man kennt Vogts Lohengrin, man hat’s schon öfters gehört. Dennoch verblüfft der radikal liedhafte Zugang aufs Neue, Vogt singt Weiterlesen →
Das Werk ist ein Opernsolitär. Heißgeliebt und selten gespielt, extrem fordernd zu singen und heikel, sehr heikel zu inszenieren. Und dabei so ungeniert affirmativ, dass Die Frau ohne Schatten schon immer der röhrende Hirsch unter den Strauss’schen Opern war. Claus Guth hat inszeniert Weiterlesen →
Was ist die Frau ohne Schatten nicht alles? Die Fruchtbarkeitsfestoper schlechthin. Saure Eheüberhöhungsoper. Hehres Paartherapieweihfestspiel.
Ja, die Frau ohne Schatten (Uraufführung 1919) ist von allegorischem Humbug überladen, die Handlung zäh wie kalter Honig.
Und doch liegt falsch, wer diese oft geschmähte, selten geliebte Opernzumutung nicht liebt. Vom Duo Strauss-Hofmannsthal selbst stets als Haupt- und Lieblingswerk angesehen, steht dieser Eheglücksmumpitz doch mit beiden Beinen fest in der europäischen Operntradition (Zauberflöte!) – und zuallererst auch in Strauss‘ eigener: in der „Frosch“ rumoren Rosenkavalier und Elektra, Alpensymphonie und Till Eulenspiegel. Weiterlesen →
Bei Harms muss der Opernbesucher zwei Dinge beachten. In der Männerwelt ist tutto Blech, oben im Himmel und hienieden, und das sowohl vor der Männer- als auch vor der Pferdebrust. Das war erstens. Und zweitens gibt es eine Überraschung. Sie betrifft Elisabeth – und Venus. Beide werden heuer nicht nur von ein und derselben Sängerin gesungen (Camilla Nylund). Sie sind – darauf deutet im dritten Akt das eine oder andere hin – dieselbe Dame, sowohl körperlich als auch geistig. Punkt. Jedenfalls in gewisser Weise. Aber wenn man das als Zuschauer nicht glaubt – ist auch nicht weiter schlimm. Weiterlesen →
Troll dich, Bösewicht! Camilla Nylund meint es ernst / Foto: Bernd Uhlig / staatsoper-berlin.de
Die erste Premiere der Saison in der Staatsoper Berlin.
Fidelio (bzw. „Leonore“, wie Beethovens einzige Oper zuerst hieß) war Anno 1805 ein Schlag ins Wasser. Aber auch noch heute ist Fidelio Dauerbaustelle. Drei Fassungen, vier Ouvertüren gibt’s. Gespielt wird zumeist Fassung drei mit den Ouvertüren vier und drei (aber John Eliott Gardiner versuchte sich vor einiger Zeit etwa an einem Mix aus Fassung eins und zwo). Ja, die Dialoge sind hanebüchen, die Dramaturgie ist hölzern, die Solonummern sind alles andere als ein Ausbund an melodischem Schmelz – Beethoven als Opernbruchpilot? Weiterlesen →
Neue Saison, neues Glück. Ist es die letzte Saison im Schillertheater? Weiß man das? Weiß der Senator für Stadtentwicklung das?
Die Premieren bringen u.a. einen neuen Fidelio von Harry Kupfer, Barenboim dirigiert. Evelyn Herlitzius singt Elektra (Regie: Patrice Chéreau, Leitung: Barenboim). Die Neuproduktion der Festtage 2017 heißt Die Frau ohne Schatten, die Leitung hat Zubin Mehta (Solisten: Botha, Nylund, Koch, Theorin). Die weiteren Premieren: Berlioz‘ Damnation de Faust mit Simon Rattle, Bizets Perlenfischer, inszeniert von Wim Wenders, es singt u.a. Olga Peretyatko, sowie Wolfgang Rihms Oper Jakob Lenz. Jürgen Flimm inszeniert zudem Puccinis Manon Lescaut – ohne Anna Netrebko, dafür mit Anna Nechaeva und Riccardo Massi. Weiterlesen →
Livesendung des Bayerischen Rundfunks aus Bayreuth, 16 Uhr, Samstag. Immer noch höllisch heiß hier in Berlin. Tannhäuser volle Dresdner Fassung.
Ouvertüre: Thielemann stellt uns den Venusberg tänzelnd vor, so als wäre Frau Venus eine Balletmaus. Das Orchester: nervös-bewegt, überraschend wenig massiv, leichtsinnig-sinnlich. Man kann auch sagen: festlich-aufgeregt, grad so, wie sich die Gäste im Festspielhaus fühlen dürften, falls sie nicht 1. weiblich, 2. gelangweilte Partnerin eines Wagnerianers und somit 3. aus heroischem Pflichtbewusstsein erschienen sind. Weiterlesen →
Berliner Philharmoniker – Simon Rattle: Beethoven-Zyklus Sinfonie Nr. 9 Webern Passacaglia op. 1
Konzertbericht Simon Rattle Berliner Philharmoniker. Beethovens 9. Sinfonie unter Rattle: nach der Pause kommt die erste Folge der Quinten wie aus blauem Himmel, das erste Fortissimo-Hauptthema erwischt einen auf dem falschen Fuß, nie fühlt man sich im Allegro ma non troppo auf einer Höhe mit Beethovens Partitur. Der Eindruck ist der eines einerseits übermenschlich großen, andererseits eines übermenschlich reinen Sonatenhauptsatzes. Voll ausgespielte Nebenstimmen. Kein Fraktionszwang der Angehörigen aller Stimmgruppen. Stattdessen dem Gewissen unterworfen. Die Musiker wie um ihr Leben spielend. Deutliches Decrescendo am Phrasenende. Diese typische Mischung von ausgewogener Präsenz aller Stimmgruppen und einer vabanque spielenden Dynamisierung der einzelnen Akzente, die sich einer nivellierenden Einreihung entziehen (letzteres ist der kleine, gigantische Unterschied zu Thielemann, Ozawa, Mehta). Also Konzentration und Chaos. Mikroskop und Kleks. Der erste Satz mit erstaunlich mächtigem Maestoso. Weiterlesen →
Mozart liegt Simon Rattle vielleicht nicht, vielleicht liegt Simon Rattle auch Mozart nicht. Im Silvesterkonzert 2006 gab es Mozarts d-moll-Klavierkonzert, ein Werk grenzenloser kompositorischer Kühnheiten. Der Mittelsatz öde, auch der Rest gelingt so a weng dösig, es herrscht eine Art BMW-3er-Reihe-Gefühl. Zu allgemein, weder linear, noch geballt, weder abgründig schön, noch prekär verkühlt. Zwei Stellen (in Exposition und Durchführung) waren jedoch auf überwältigende Weise mit Dramatik und Polyphonie angefüllt – 10 Sekunden Musi vom anderen Stern. Mitsuko Uchida am Klavier tat es Rattle nach, nur dass sie die 10 Sekunden auch noch weggelassen hat. Uchida kann keine zwei Akzente hintereinander setzen, das schafft sie einfach nicht. Alles fließt, und nie kommt sie zu Potte.
Dann das Terzett und Finale aus dem Rosenkavalier (Camilla Nylund, Laura Aikin, Magdalena Kozena). Ich war nie für Opernauszüge auf Konzertpodien. Entweder die ganze Oper konzertant oder nichts. Nylund, Aikin und, halt! nicht Kozena sang, sondern Stella Doufexis, sangen mit der gebotenen Frische. Ein Rosenkavalierfinale im Konzertsaal ist und bleibt dekadent. Dann schon lieber die Fledermausouvertüre und direkt danach die Diebische Elster.