Jetzt macht Petrenko auch einen Mini-Zyklus Brahms. Diese Woche erklingt der Publikumsrenner D-Dur-Sinfonie und nächste Woche das mächtige B-Dur-Konzert (mit Schiff). Das ist erstmal gediegenes Philharmoniker-Business, as usual halt und ziemlich erwartbar. Interessanter ist, was neben Brahms passiert. Da stehen ein Hauptwerk eines spezifisch deutschen Expressionismus, Zimmermanns Photoptosis, und die burschickose Nachkriegs-Erste des Polen Lutosławski auf dem Zettel (oder dem Download-Programm).
Unter einem sichtlich genesenen, vital beweglichen Petrenko (Silvester-Hexenschuss, ade) legen die Philharmoniker das kalt lodernde Photoptosis hin. Ich höre abwechselnd gläsern lauernde Farbschichtenstatik (die Farben kommen aus dem Giftschrank) und dramatisch durchleuchtete Durchbrüche. Petrenko sucht nicht die expressive Zermalmung. Über dem Musikgetümmel schwebt bei Petrenko die makellose Struktur. Zimmermann dürfte es freuen.
Entspannt und locker geht es auch bei den letzten zwei Tagen von Ultraschall Berlin zu. Maske, 2G+Booster, Ausweiskontrolle, ausreichend Platz, Leute, die vernünftig sind – dann klappt das auch mit dem Festival, selbst wenn das Virus durch Berlin schwappt. Gut auch, dass es anders als bei den diesbezüglich arg gebeutelten Berliner Opern nicht zu Veranstaltungsabsagen kommt.
Wie viel wert ist ein Neue-Musik-Festival ohne zumindest eine kurzfristig über den Haufen geworfene Programmfolge? Beim Konzert des Berliner Ensembles LUX:NM beginnt man also jetzt mit Stresstest des 50-jährigen Isländers Steingrímur Rohloff, das auf beharrliche Ostinati setzt und in jedem Takt grundsolides Handwerk ausstrahlt. Dass LUX:NM ein Schlagzeug-basiertes, Blechbläser-fundiertes Klangbild bevorzugt, hört man sogar einem über weite Strecken so verschwiegenen Stück wieC’est une volupté de plus von Philipp Maintz an. Ähnlich tönt A map of horizons des jungen Niederländers Jesse Broekman, das in wolkig verhangenen, aber sehr genau ausgehörten Strecken zu sich findet. Es finden sich schöne Blechbläsertrios in dem Stück (Rike Huy, Trompete, Ruth Velten, Saxophon, Florian Juncker, Posaune).
Waren das drei Buhs am Ende der Uraufführung von Astro-Noetic Chiasm (χ), komponiert vom Ungarn Zsolt Sörés? Ultraschalltag 3 im Heimathafen Neukölln weckt vorerst wenig Begeisterung. Sörés‘ Stück, gediegene 50 Minuten lang, vertraut auf minimale Varianz bei weitgehend statischem Material. Dass dabei die Faszination aus vollständiger Prozessmonotonie emporsteigt wie der Phönix aus der Asche, bleibt eine vergebliche Hoffnung. Einziger, wenn auch optischer Lichtblick ist Mihály Sándor, der im Halbdunkel als finsterer Zeremonienmeister über der Elektronik thront. Franz Hautzinger spielt Trompete, der Komponist Bratsche, Anthea Caddy und Judith Hamann arbeiten sich stoisch am Cello ab.
Spät am Abend höre ich (auf DLF) die Performance The New Recherche des Freiburger Ensemble Recherche. Verspielt löst sich das anlässlich des 35-jährigen Bestehens des Ensembles entstandene Programm aus der festgefügten Festivalstruktur. Eingebettet in 75 Minuten lineares Programm erklingen dabei Werke von Hannes Seidl, Sara Glojnarić und Charles Kwong. Seltsam selbstreferentiell muten die dazwischen laufenden Wortbeiträge zu Arbeit und Mindset des Ensembles an. Dass der Abend um das Thema Gentrifizierung kreist, macht das Ganze nicht besser. Sind Künstler wirklich mit „immigrants and workers“ zusammen Opfer der Gentrifizierung? In meiner Nachbarschaft ist das anders. Autoren, zeitgenössische Komponisten und Tänzer sind hier ausnahmslos Käufer sanierter Altbauwohnungen. Der ganze Abend hängt ziemlich schief und verursacht je länger, desto mehr, Fremdscham. Dass völlig unklar bleibt, wie viel Selbstironie im Spiel ist, trägt zur Verstörung bei.
Ultraschall Berlin geht ins zweite Pandemie-Jahr. Nach der Online-only-Ausgabe von 2021 offeriert man dem erwartungsfrohen Publikum im Jahr 2022 wieder dreizehn Präsenzkonzerte, die an drei Spielorten gebündelt werden. Flankiert wird das klassische Präsenz-Angebot durch eine dicht gestaffelte Folge von Live- oder Fast-Live-Übertragungen, die von den Festival-Trägern Deutschlandfunk Kultur und RBB passgenau ausgestrahlt werden, oft zu bester Sendezeit.
Los geht Ultraschall Berlin ganz traditionell im Haus des Rundfunks an der Masurenallee, Traditionen zählen auch bei Neuer Musik.
Dort, im gediegenen Ulmenholztrapez des Großen Sendesaals, setzt das Deutsche Symphonie-Orchester die erste Ultraschall-Duftmarke. Auf dem Programm stehen Ammann, Francesconi und Djordjević. Gleich zu Beginn stellt Glut des 1962 geborenen Dieter Ammann (2016) ein vitales, hypertrophes und überaus materialsattes Klangbild in den Saal. Die Partitur fordert u.a. 14 erste Geigen, Harfe, 4 Trompeten. Man spürt, dass das 18-minütige Werk von einem Komponisten-Mastermind gesteuert wird, das weiß, was es kann. Das lärmt perfektionsdurchdrungen und strukturagil. Und so makellos, dass es mich – Kritik hin oder her- unberührt lässt. Ganz anders, nämlich leicht und locker, erspielt sich das Deutsche Symphonie-Orchester das Konzert für zwei Klaviere von Luca Francesconi, geboren 1956 (das Stück heißt auch Macchine in echo). Pianistische Gesten blitzen auf. Sparsam, aber tastenintensiv setzt Francesconi Höhepunkte. Die Struktur bleibt trotz lustiger Echoeffekte flink und durchhörbar. So ergibt sich eine leichtfüßige Komplexität. Überhaupt ist ein gewisser italienischer Charakter herauszuhören, was die rationale Eleganz der Schreibweise angeht. An den Flügeln sitzen die Solisten der Uraufführung 2015, Andreas Grau und Götz Schumacher. Sie spielen so kühn wie möglich und so genau wie nötig.
DSO: Ammann, Francesconi, Djordjević
Quicksilver (Quecksilber, 2016 beim BRSO) von Milica Djordjević wirkt dagegen magisch und unheimlich. Der Zuhörer steht hier einer mikroskopisch gedachten Material- und Dingerkundung gegenüber. Glissandi stehen für die Flüssigkeit des titelgebenden Elements. In Quicksilver erkundet Djordjević quasi für uns das Schwarmverhalten musikalischer Atome. Was beim gelegentlichen Vorab-Hören auf YouTube „nur“ nach, freilich ziemlich guter, orchestraler Feinmalerei klingt, entfaltet live eine räumliche Struktur, eine amorphe Mikrokinetik, die überrascht und einnimmt. Umso besser, dass das DSO die Gelegenheit beim Schopfe packt, seine Rundfunkklangkörpersouveränität demonstriert und unter Jonathan Stockhammer selbstverständlich helltönig und detailwach spielt.
Zwei Mal Unerhörte Musik, jeweils per Livestream. Gestern ein Trompeten-Soloabend, letzte Woche ein Klarinetten-Fagott-Duo.
Der serbische, seit 2005 in Berlin lebende Trompeter Damir Bacikin ist nicht zuletzt von den 21-Uhr-Konzerten des Ensemble unitedberlin im Konzerthaus bekannt. Heute spielt er im Kreuzberger BKA-Theater. Zuerst, in Sevdah of Berlin, das von hektischer Atemakrobatik geprägt ist, ist Bacikin sogar als Solist in eigener Sache unterwegs. Dann streikt mein Router. Als die Leitung wieder steht, höre ich schwelgerisches Trompeten-Melos (ist das Predah des Italieners Luca Lombardi?), gefolgt von klug introvertierter Trompetenmusik (Chronesthesia von Gabriel Santander?). Bei Eres HolzMACH (2012) bin ich wieder voll konzentriert. Streng linear die Gestik. Das Stück ist klar und deutlich hörbar und entzieht sich doch schnellem Verständnis. Von Bacikin gestochen scharf dargeboten, erweist das karg, doch sicher beseelte Stück für mich erneut seine Lebensfähigkeit – ich höre es zum zweiten Mal nach Ultraschall 2018. Gewissermaßen das Gegenteil von MACH stellt Invocation dar (2021). Komponiert hat das die Russin Alexandra Filonenko. Und die geht hier spielerisch vor. Filonenko strickt Bläseraktionen zu einem episodisch lockeren Gesten-Patchwork zusammen. Das Bacikin virtuos entflammt.
Zum Werk von Ying Wang habe ich noch nicht den rechten Draht gefunden. Ihr Stück Plus-Noctilucen (2021) schnurrt wie ein verwöhnter Kater, sobald Bacikins Linke mit professioneller Zärtlichkeit den Schalldämpfer tätschelt. Dazu liefert eine diskrete Elektronik Hallkonturen. Worauf sich Bacikin in dem eigenen Stück EARWORM! mächtig ins Zeug legt (2020). Das ist ein kurzer, reichhaltiger Abend bei Unerhörter Musik. Und ist wie immer auf Youtube nachzuhören (der eigentliche Stream startet nach ca. zehn Minuten).
Lise Davidsens Recital im Großen Saal der Staatsoper folgt im zweiten Teil beliebten Lieder-Bahnen (Strauss op. 27, Wesendonck). Doch im ersten Teil singt die junge Sopranistin von Edvard Grieg, dem hierzulande Seltengehörten, die Sechs Lieder op. 48 nach Texten deutscher Dichter sowie den Zyklus Haugtussa op. 67.
Erster Januar, Neujahrsvormittagskonzert. Ich folge auf Ö1, und, weil in Katerstimmung, nur der zweiten Hälfte. In der Zweidrittel-besetzten Goldschachtel des Musikvereinssaals präsentieren die Wiener Philharmoniker ihren altbekannten „Exportschlager auf dem TV-Weltmarkt“ (Wiener Zeitung).
Haben Barenboim und die Musiker geheime Botschaften im Programm versteckt? In der ersten Konzerthälfte wahrscheinlich schon. Denn aus Phönix-Marsch und Phönix-Schwingen-Walzer lässt sich ein beschwingtes, 4/4- respektive 3/4-Takt-geprägtes Aus-der-Asche-Emporsteigen heraushören, nämlich aus der Virus-Malaise.
Die kurzfristige Absage Petrenkos (die Intendantin: „Hexenschuss“) ruft in Berlin Grübeleien aller Arten hervor. Was ist mit Petrenko? Gibt es Stress? Wie ist das Verhältnis zum Orchester? Lahav Shani springt – äußerst kurzfristig – ein. Der ist jung, aber mit seinen 32 Jahren schon ausreichend erfahren.
Los geht es mit der Fledermausouvertüre. Die klingt nicht spritzig-frivol (wie an der Komischen Oper), sondern gediegen symphonisch. Und in einem höheren, wienerischen Sinne durchaus harmlos.