Die deutsche Hauptstadt friert, aber nicht übermäßig. Das Kraftwerk Wilmersdorf pustet Dampf in den Berliner Himmel, aber nicht übermäßig. Wenn etwas übermäßig war in Berlin, so die Freude auf den Dienstagabend. Die Wiener Philharmoniker kommen.

Ein gebrechlicher Georges Prêtre. Formidabel und lässig sitzender Anzug. Einstecktuch. Er winkt beim Schlussapplaus heiter ins Publikum, entweder zum Abschied oder um zu bedeuten, dass keine Zugabe mehr kommt. Oder weil es ihm so gut gefallen hat.

Ein So-so-Konzert. Für das erste „So“ stehen ein rundes Finale der Siebten und ein kecker Feuervogel. Für das zweite „So“ stehen ein langweiliges zweites Satzerl von Beethoven und ein Bolero, der sich, na, ziemlich in die Länge zog.

Beethoven. Aha, auch die Wiener wiederholen die Exposition des ersten Satzes nicht – von wegen Wiener Beethoven-Orthodoxie. Der erste Satz ist ziemlich gemütlich. Viel Slow Motion. Der Tutti-Klang kann von strahlender Sattheit sein, so in der Durchführung bei den zwei wie das Hauptthema rhythmisierten Takten mit den Unisono-Bläser-Einwürfen im Fortissimo. Die Besonderheiten: die warmen Pizzicati der Bässe – für die Bässe der Wiener sterbe ich noch mal -, der Vorrang der Linie gegenüber dem Akzent, das Tutti eine pompös abstrahlende Klangmasse, die sich mit der Geschwindigkeit eines Großglocknergletschers fortbewegt.

Ein verschämtes Aufbranden von Applaus nach dem ersten Satz. O Gott, wie peinlich, grad vor den Wienern. Der 2. Satz war sehr schön, aber sehr langweilig. Scherzo: Die zwei Takte Assai meno presto in der Coda, diesen Ätsch-Witz mit den Terzen der Hörner, habe ich noch nie in solcher durchtriebenen dolce-Delikatesse gehört. Aber diese Stelle hat Thielemann vor zwei Jahren mit den Wienern schon sehr gut gemacht – nur damals zu plakativ.

Das Beethoven-Finale war eine runde Sache. Das Thema allerdings noch: schleppend, träge Sforzati. Doch dann: plötzlich Tempoverschärfung. Alles passt. Wunderbar. Die Hörner zusammen mit den Trompeten hauen ihre Viertel raus. Der Höhepunkt jeder Siebten: die Doppel-fff-Stelle, heute Abend mit hell schmetterndem Blech. George Prêtre macht nur das Nötigste. Prêtre berherzigt gleich mehrere Ratschläge von Richard Strauss, besonders aber diesen: Du sollst beim Dirigieren nicht schwitzen. Das Berliner Publikum, bei Beethoven an die knatternde Chinaböller-Hektik Rattles gewöhnt, schien etwas ratlos bei so viel Wiener Langsamkeit.

Die vier Frauen der Wiener Philharmoniker sind alle in einem Pulk an den hinteren Pulten der Geigen zu finden. Meine Begleitung findet, Prêtre kümmere sich nur um die Geigen.

Strawinsky. Die Feuervogel-Musik war das Meisterstück des Abends. Das Orchester spielte die klangdurchglühte Partitur als lichtdurchflutetes, locker gefügtes Klangbild. Die Darbietung war gewohnt souverän, klanglich dichter, als man es von den Berliner nicht nur unter Rattle gewohnt ist, sorgfältig im solistischen Detail (den Fagottisten würde ich mir schnappen, wenn ich Rattle wäre). Auch Georges Prêtre scheint in seinem Element. Er steuerte eine Note lächelnder Ernsthaftigkeit bei.

Der Bolero, oder Boléro, wie man in Frankreich sagt, war ein Reinfall. Wunderschöne Klarinette. Aber nun sind die Wiener Philharmoniker endlich mal wieder in Berlin, und was tun die Streicher? Sie sitzen das halbe Stück da und zupfen auf ihren Geräten herum. In den ersten Geigen, zweite Reihe, hört einer sogar zwischendurch mal auf. Etwas Debussy oder Schönberg wäre netter gewesen.

Streicher bei Beethoven: 2 x 15 Geigen, 9 Celli. Thielemann lief im Dezember 2010 in der Philharmonie bei der Siebten aber mit 2 x 16 Geigen auf.

Tempi Beethoven: 1. Satz 90 punktierte Viertel (Partitur: 104). Allegretto 70 Viertel (Partitur: 76). Scherzo: so knapp 130 punktierte Halbe (Partitur: 132). Finale fand ich so gut, dass ich keine Zeit hatte, um Noten zu zählen und eine halbe Minute auf meine Casio zu schauen.

Zugaben: ein gemütlicher und entzückend schwerfälliger Kaiserwalzer (meine Begleitung: „Sissi.“), in dem der Streicherhimmel voller Samtpatschen hing, und eine makellos-kecke Tritsch Tratsch Polka (meine Begleitung: „Kenn ich.“) – wenn denn meine nicht ganz sattelfeste Kenntnis österreichischer Zugaben mich nun nicht in fataler Weise im Stich gelassen hat.